Die Suche nach einer Zukunft, die sich jenseits von Lockdowns, Impfstrategien und anderen Desastern befindet, bewegt derzeit viele. Ein mittlerweile schon prominentes Szenario präsentierte das mächtige World Economic Forum bereits im Sommer 2020, als die Corona-Pandemie noch jung war. Der Vorschlag nennt unter dem Namen „The Great Reset“ („Der große Neustart“), sieben Themen (oder Knotenpunkte), die für eine Neugestaltung der weltweiten Gesellschaft und Wirtschaft im Anschluss an die Pandemie wesentlich sein sollen (https://intelligence.weforum.org/topics/a1G0X000006OLciUAG?tab=publications): (1) Nutzbarmachung der Vierten Industriellen Revolution, (2) Stärkung regionaler Entwicklung, (3) Revitalisierung globaler Kooperation, (4) Entwicklung nachhaltiger Geschäftsmodelle, (5) Wiederherstellung der Gesundheit der Umwelt, (6) Neugestaltung von Gesellschaftsverträgen, Fähigkeiten und Stellen, (7) Gestaltung des Wirtschaftsaufschwungs.

Das klingt alles gut, zeigt jedoch überdeutlich, dass die neue Gesellschaft ganz und gar wirtschaftlich strukturiert ist. Gesellschaft, und damit jene Aspekte, die für uns als Menschen und für unser Menschsein relevant sind, kommen schlicht nicht vor. Kultur? Bildung? Demokratie? Politische Willensbildung? Gemeinschaft? Menschenwürde? Kreativität? Achtsamkeit? Solidarität? Mentale und physische Gesundheit? Fehlanzeige! All dies kommt in dem, was das World Economic Forum für die Neugestaltung unserer Gesellschaft der Zukunft konzeptioniert, schlicht nicht vor. Zwar finden sich in den insgesamt 64 aufgeführten Handlungsfeldern immerhin acht, die sich mit einigem guten Willen als vorwiegend gesellschaftsbezogen verstehen ließen: Beteiligung der Zivilbevölkerung, Menschenrechte, Systemischer Rassismus (gemeint ist vermutlich die Arbeit an der Beseitigung desselben), Gleichstellung der Geschlechter, Soziale Gerechtigkeit, LBGTI Inklusion, Recht und Gesetz, Frieden und Resilienz. Gegen keines dieser Anliegen ist etwas einzuwenden – sie waren und sind wichtig, und müssten nun endlich auch mit Leben gefüllt werden. Allerdings erscheint die Selektion mit Blick auf eine „Neugestaltung der Gesellschaft“, wie es das Anliegen des Vorschlags ist, merkwürdig dürr. Und funktional. „Menschenrechte“ heißt eben gerade nicht: „Menschenwürde“. Ebenso wenig wie „Beteiligung der Zivilgesellschaft“ zugleich „Demokratie“ bedeutet. Von Kultur, Bildung usw. (siehe oben) auch auf dieser Ebene keine Spur.

Wenn die Vorstellungen des World Economic Forum tatsächlich unsere Zukunft sein sollen, sind wir in großer Not! Sogar in größerer noch als aktuell unter den Angst-Bedingungen der Pandemie. Denn die Vorschläge des World Economic Forum schreiben in extremer Weise das fort, was uns bereits vor der Pandemie-Krise ins Unglück getrieben hat und was uns in der Pandemie-Krise nun als absolut dysfunktional vorgeführt wird: Die Überbetonung des Funktionellen, wenn nicht gar: die Fixierung auf Macht, Besitz und Kontrolle, die den „homo instrumentalis“ (Albrecht von Müller, 2020) ausmacht. Es steht sehr viel auf dem Spiel, vielleicht geht es letztlich sogar „um die Frage, welche Chancen wir haben, den anstehenden menschheitsgeschichtlichen Schritt vom derzeitigen ‚homo instrumentalis‘ zu einem wirklichen ‚homo sapiens‘ zu schaffen oder nicht“ (ebd., S. 28).

Ja, wir brauchen dringend Zukunftsentwürfe. Und zwar solche, an denen wir alle mitdenken und in denen es um uns Menschen geht, um unser Menschsein und wie wir gemeinsam ein gelingendes Leben erreichen. Das umfasst so viel mehr, als auf ein technik-funktionales und wirtschafts-unterworfenes Wesen reduziert zu werden. Hier tut Widerstand not.

Heike Egner, Geographin, Sozionautin, Gastprofessorin an der Universität für Bodenkultur in Wien und Vorstandsmitglied des Universitäts.club|Wissenschaftsverein Kärnten

23. Februar 2021