Am 11. März 2020, als die Weltgesundheitsorganisation WHO die Ausbreitung des Covid-19-Virus zur Pandemie erklärte, war der Universitäts.club|Wissenschaftsverein Kärnten mitten in der Aussendung des Jahresprogramms 2020 und in Vorbereitung seines Jubiläums-Symposiums. Vieles hat sich seither verändert.
Am 16. März 2020 ging Österreich in den ersten Lockdown: Einreisebeschränkungen, Grenzkontrollen, einzelne Gemeinden unter Quarantäne gestellt, d.h. von der Außenwelt abgeschnitten. Besuche in Spitälern und Altersheimen wurden verboten, Hotels und Beherbergungsbetriebe behördlich gesperrt, Geschäfte geschlossen, Supermärkte durften nur mehr mit Mund-Nasenschutz betreten werden. Alltägliche (bis dahin unreflektierte) Selbstverständlichkeiten wurden per Verordnung außer Kraft gesetzt. Staatliche Eingriffe in unser Leben, die zuvor völlig unvorstellbar waren. So etwas kannten wir, wenn überhaupt, nur aus der Geschichte oder haben wir autoritären Regimen unterstellt – ideologischen „Feinden“ unserer freien Marktwirtschaft und der liberalen Demokratie, von denen wir uns seit dem 2. Weltkrieg abgegrenzt hatten.
Die Welt, wie wir sie kannten, war mit Corona gleichsam „über Nacht“ zu Ende gegangen. Dass all dies einmal auch uns selbst betreffen könnte, war bis dahin unvorstellbar! Die regulative Idee der Freiheit, zuvor selbstgefällig in den „abgehobenen“ philosophischen Diskurs verbannt, war plötzlich ins Zentrum gesellschaftlicher Praxis gerückt, und mit ihr auch Fragen nach gesellschaftlicher Solidarität und Gerechtigkeit. Erstmals seit dem 2. Weltkrieg wurde uns nachfolgenden Generationen gewahr, dass wir in einer Scheinsicherheit lebten, getragen vom unbändigen Glauben an naturwissenschaftlich-technologischen Fortschritt und einer „vorgefundenen“ demokratischen Verfassung, die angesichts ihrer Wohlstands-Sättigung immer mehr Nichtwähler*innen zeitigte. Dass unsere Demokratie im vorigen Jahrhundert blutig erkämpft werden musste, ist den meisten nicht mehr bewusst. Bequemlichkeit, Konsumismus, Egoismus – das ist Bild und die Praxis unserer säkularen hedonistischen Gesellschaft, die aus kollektiver Angst davor, zu kurz zu kommen, das Leben als eine Art letzte Gelegenheit lebt und ihr „Heil“ in immer mehr Macht, Besitz und Naturbeherrschung sucht.
Die Corona-bedingte Isolation des „sozialen Tiers Mensch“ hat uns jedoch bewusst gemacht, wie wichtig zwischenmenschliche Kontakte, persönliche Begegnungen und sogar Berührungen sind und wie sehr ein „gutes Leben“ von Qualitäten abhängt, die man nicht kaufen, sondern nur „erleben“ kann. Ein Erleben im Innehalten und der Vergegenwärtigung dessen, was in bewusster Wahrnehmung des „Hier-und-Jetzt“ nur sinnlich erfass- und genießbar ist. Die Erfahrung, dass Status und seine Symbole dauerhaft weder ein Gefühl von Sicherheit noch Zufriedenheit gewährleisten können, die es zu einem erfüllten Leben braucht. Andererseits hat sich auch in verstörender Weise gezeigt, wie nahe sich große Teile der Bevölkerung finanziell an der Klippe zum sozialen Abstieg befinden und existenziell gefährdet sind, sobald nicht alles seinen „gewohnten“ Weg geht.
In unserem Corona-bedingt abgesagten 25. Symposium 2020 wollten wir uns mit der Frage befassen, welche Zukunft wir WOLLEN. Wir beabsichtigten, uns auf die Suche nach „Inseln der Hoffnung für eine aufgeklärte Aufklärung“ zu begeben, wurden aber durch die Pandemie jäh eingebremst. Inzwischen, ein Jahr später, hat sich an der Relevanz dieser Frage nichts geändert – im Gegenteil: Nun stellt sich diese Frage umso zugespitzter, nämlich wie eine „neue Normalität“ nach dieser globalen viralen Bedrohung und infolge dieser kollektiven Erfahrung einer inszenierten Politik der Angst aussehen könnte? Wie schaffen wir es, unseren Blick in die Zukunft zu richten, in der mit dem Klimawandel eine noch viel größere globale Herausforderung ansteht? Die zunehmend ins Bewusstsein dringende Erkenntnis, dass wir alle auf dem einen Ast sitzen, den wir mit atemberaubender Geschwindigkeit absägen, in der irrigen Hoffnung, dass schon alles gut gehen wird, macht uns nur noch ratloser. Dieser (Aber-)Glaube daran widerspricht jeder naturwissenschaftlicher Erkenntnis, auf die wir uns sonst gerne berufen. Insofern greift unser Verstand zu kurz und bedarf es ergänzend dazu einer Vernunft, die darüber hinaus das Ganze und das Gute in den Blick nimmt. Anthropologisch gewendet brauchen wir den Blick auf ein „gutes Leben“ für alle, im besten philosophischen Sinn. Dies wäre der Fokus, der ins Zentrum unseres Wollens, Denkens und Handelns gestellt werden muss.
Horst Peter Groß, Präsident des Universitäts.club|Wissenschaftsverein Kärnten
01. April 2021