Was Kanzlerin Merkel mit dem holprigen Satz „Das Virus ist eine demokratische Zumutung“ ausdrücken wollte, wird heftig diskutiert: Vom Verlust der Freiheit ist ebenso die Rede wie von der Unzumutbarkeit des Lockdowns. Manche vermuten Verschwörungen oder totalitäre Tendenzen, andere erblicken in den „vermeintlichen Schutzmaßnahmen“ grosso modo eine verordnete Unmündigkeit, wiederum andere reklamieren die Freiheit, auch an Covid sterben können zu dürfen.
Der Schutz von Grund- und Freiheitsrechten ist unumstritten, bleiben wir aber realistisch: Die oft grenzwertigen „Schutzmaßnahmen“ finden Ihre Grundlage in einer verfassungsmäßig vorgesehenen Interessensabwägung (hier Freiheits-, dort Gesundheitsschutzrechte). Darüber wachen autorisierte Verfassungsschützer!
Man mag die Sinnhaftigkeit und Wirksamkeit von Covid-Schutzmaßnahmen (vom Lockdown bis zur „freiwilligen Zwangstestung“) gerne hinterfragen, eventuell auch ein Managementversagen der Regierung orten, allein, man muss sich bei der Verteidigung der Grund- und Freiheitsrechte bewusst sein, dass man damit wirklich nur hilflos an der Oberfläche kratzt, keineswegs damit aber die wahren demokratischen Rechte wiederherstellen kann: Diese haben wir nämlich de facto – Covid hin oder her – in den letzten Jahrzehnten bereits an der Garderobe der globalen Wirtschaft abgegeben. Konsequent wurde die Demokratie im Zangengriff von Konzernen und willfährigen, machthungrigen, meist telegenen Selbstinszenierern (aktuelle Beispiele: Johnson, Macron, Kurz…) und Entertainern (Trump, Berlusconi…) zu einem populistischen Showact degradiert, freilich auf Basis der zuvor neoliberal und zum Teil sogar mithilfe der Sozialdemokratie (!) – man denke an „Maastricht“ oder „Hartz IV“ – aufbereiteten Zerstörung des sozialstaatlichen Zusammenhalts.
Der vielbeschworene „Zauber der Freiheit“ ist durch die seither (weitgehend willenlos hingenommene) alles beherrschende Durchkapitalisierung aller Lebensbereiche von einem fröhlich-verantwortlichen Gemeinsinn zu einer Anbetung des eiskalten Luxus der Geld- und Machtelite erstarrt. Zurück bleibt ein wahrlich unmündiger, konsumorientierter, entrechteter und entfremdeter Bürger …
Verständlich also die ohnmächtige Wut auf eine visionslose demokratie- und freiheitsgefährdende Politik, die selbst noch die Notlage „Covid“ dazu benützt, ihre Machtallüren zu steigern. Allein, es braucht mehr, viel mehr: Die Wiederherstellung gerechter Verhältnisse, den Wiederaufbau des Gemeinsinns und eine Renaissance des Öffentlichen. Aufgaben für Post-Corona!!
DDr. Helmut Friessner, Jurist und Philosoph, Mitglied des Vorstands des Universitäts.club|Wissenschaftsverein Kärnten
2. Dezember 2020
Lieber Helmut,
wuchtige, zutreffende, nachdenklich stimmende Sätze sind das! Warum der Bürger aber fast freudig zusieht, wie er zu einem unmündigen, konsumorientierten Wesen mutiert, das ist eine Frage, die mich umtreibt. So mancher versteht unter „Freiheit“ die Wahl, ob er seine Kleidung bei c&a oder woanders einkauft, und fürchtet sich gar vor zuviel Freiheit. Der Kapitalismus hat es geschafft, unter perfekter Ausnützung unseres archaischen Erbes (so meine These) auf subtile Weise aus dem homo sapiens einen homo consumens zu kreieren. Und der macht freudig mit, nur hin und wieder gestört von Pandemien oder Leuten wie Dir!
Alles Gute im neuen Jahr, bleib gesund und kritisch! LG Peter
Herr Dr.Friessner,
durch Frau Merkels Aussage bin ich auf Ihre Seite gekommen. Ich gehe davon aus, dass Sie im kapitalistischen System sämtliche Schulen absolvieren konnten. Meine Schulen habe ich zum großen Teil im Sozialismus absolviert. Ich habe also beide Systeme kennengelernt.
Ihre Anschauung vom Kapitalismus ist mir bekannt. Man könnte eine Blaupause drüber legen – Made in GDR. Ich glaube nicht Ihnen mehr darüber schreiben zu müssen.
Im Sog der ‚Selbstdarsteller‘ und Kapitalisten lässt es sich für die Mehrheit der Bürger besser leben als jemals in der DDR (z.B.). In der DDR war nur einem Teil der Bürger möglich, der sonst ärmlichen, verfallenden, sozialistichen Erfolge zu entfliehen. Vielleicht 2,5 Mio. ? Und dreimal dürfen Sie raten, zu welchem Preis ? Apparatschicks sagt man schon seit Jahrzehnten. Ich würde Ihnen gerne helfen da hinein zu kommen, wenn die DDR noch bestehen würde. Ich freue mich immer, wenn ich jemanden helfen kann. – Es gibt in der DDR noch viele Menschen, die den Kapitalismus ablehnen. Warum machen Sie sich nicht die Freude zukünftig in einer angenehmeren Umgebung zu leben ?
Ich für meinen Teil lasse mich weiterhin hier lieber ausbeuten im absterbenden, faulenden Monopolkapitalismus. Hier lasse ich mich jedes Jahr von der Tourismusbranche reinlegen, von der Konsumgüterindustrie vorführen und von Hollywood schulen.
Mit planwirtschaftlichen Grüßen
K.Krüger
Lieber Herr Krüger,
ich war 1972 mit meiner damaligen Freundin und jetzigen Frau in Westberlin, habe Ostberlin besucht und bin dort, wie auch bei der Durchreise durch die gesamte DDR auf vom System traumatisierte Menschen gestoßen und habe zudem höchstpersönlich sehr unangenehme Repressalien erlebt: Glauben Sie mir, ich habe mit Planwirtschaft nichts am Hut! Nur teile ich bei allem Verständnis für Ihre persönliche Einstellung nicht Ihre Meinung, dass es nach Überwindung des Kommunismus alternativlos und unveränderbar geboten ist, einen außer Kontrolle geratenen Kapitalismus in Kauf zu nehmen.
Noch vertraue ich auf die Kräfte der liberalen Demokratie und auf die uns garantierten Grund- und Freiheitsrechte, sorge mich aber zunehmend über einen Systemwandel, der uns um die Früchte unserer demokratischen Rechte zu bringen droht. Auf einen kürzest möglichen Nenner gebracht, könnte man dieses Scenario wie folgt beschreiben: Die an der Macht sind, haben wir nicht gewählt (und die wir gewählt haben, haben nicht die Macht)!
Die Entwicklung unserer Gesellschaft am Beispiel der Bundesrepublik demonstriert dramatisch den Wandel von einer gesellschaftlich eingehegten, kollektiv ausgerichteten und demokratisch organisierten sozialen Marktwirtschaft zu einem individualistisch ausgerichteten und konzernorientierten, eiskalten neoliberalen Geldwirtschaftsmodell, das sich der Gestaltung durch demokratische Mittel völlig entzogen hat und in welchem der Mensch zunehmend vom Staatsbürger zum Konsumenten entfremdet und degradiert wird. Und wie steht’s um die einstigen bürgerlichen Grundwerte? Brüderlichkeit – sprich Gemeinsinn – ist im Sinkflug begriffen, Gleichheit führt sich angesichts der ungeheuren Einkommens- und Vermögensunterschiede selbst ad absurdum und die letzte Bastion, die Freiheit, steht unter massivem Druck ökonomischer Zwänge und ist nicht zuletzt durch die global agierenden Medienkonzerne (vgl. Google, Facebook & Co) aufs Äußerste gefährdet. Eine ungebremste Digitalisierung ohne gesellschaftliche Einhegung wäre durchaus in der Lage, uns den noch verbliebenen Rest an Freiheit zu nehmen. Als technologischer Fortschritt ausgewiesene – und zumeist kritiklos übernommene – Innovationen (Datenspeicherung, Gesichtserkennung …) führen uns schneller dorthin, wo wir beide nicht hinwollen: In die DDR, hier als Synonym für eine überwachte Gesellschaft.
Der Streit zwischen Kapitalismus und Kommunismus ist im Grunde nach entschieden. Jetzt geht es darum, die Widersprüche zwischen einer kapitalistischen Marktwirtschaft und einer demokratischen Ordnung auszutragen, um am Ende wieder mehr an demokratischer Selbstbestimmung zu erlangen.
Mit freundlichen Grüßen
Ihr Helmut Friessner