Schon immer mussten wir Menschen Regeln und Normen entwickeln, um unser friedliches Zusammenleben in der Gemeinschaft zu ermöglichen. Basis dafür sind gemeinsame Werte.

Dem Philosophen Aristoteles zufolge braucht es dazu drei Formen von Gerechtigkeit: Leistungsgerechtigkeit, Bedürfnisgerechtigkeit und Gesetzesgerechtigkeit. Erstere soll persönliche FREIHEIT und Entwicklung ermöglichen. Die zweite soll SICHERHEIT geben, unsere Grundbedürfnisse zu befriedigen und menschenwürdig zu leben. Die dritte, die Gesetzesgerechtigkeit, verbinde ich mit dem Wert der SOLIDARITÄT als Basis gegenseitiger Verantwortung. Sie hält den Widerspruch von Freiheit und Sicherheit in Balance, denn Menschen brauchen beides. Beide Bedürfnisse sind berechtigt, notwendig und voneinander abhängig, hier gibt es kein Entweder-Oder.

Um hier einen Konsens oder wenigstens Kompromisse zu finden, braucht es Orte und Zeiten, die den notwendigen gesellschaftlichen Aushandlungsprozess ermöglichen. Doch heute wird die Reflexion unserer Werte in Ethik-Kommissionen ausgelagert. Unserer Praxis von Wirtschaft und Politik fehlt die Zeit, abzuwägen und zu diskutieren, weil sie sich um vermeintlich Wichtigeres zu kümmern und rasch Entscheidungen zu treffen habe. Ich halte das für einen fatalen Irrtum.

Könnten unsere Erfahrungen aus der Corona-Krise hier etwas positiv verändern? – Vielleicht!

Das Virus hat uns unvermittelt gezeigt, wie plötzlich und potenziell tödlich verletzbar wir als biologische Wesen sind. Wir haben dabei erlebt, wie wichtig es ist, solidarisch zu handeln, wenn es darum geht, im Sinne der Bedürfnisgerechtigkeit Leben zu retten – koste es, was es wolle.

Sobald dies aber überwunden scheint: Wird es dann wieder um persönliche Profite gehen, werden Verteilungskämpfe aufkeimen, wird sich jeder wieder selbst der Nächste sein? Oder werden wir eine neue Balance jener Werte finden, die ein gutes, ein öko-soziales Leben für alle ermöglichen?

Ohne Frage muss das finanzielle Überleben abgesichert sein. Wir brauchen stabile wirtschaftliche Verhältnisse für unsere friedliche Koexistenz. Doch dürfen wir nicht wieder in alte Fahrwasser eintauchen. Anstatt „Wirtschaftswachstum – koste es, was es wolle“ müssen wir uns daran orientieren, was für ein gutes Leben für alle notwendig und gerecht ist. Gegenseitige Verantwortung, Rücksichtnahme und Solidarität. Ökologische Gerechtigkeit würde bedeuten, die unbezahlbaren (und unbezahlten, weil wirtschaftlich gratis bewerteten) Dienstleistungen der Natur nicht mehr dem Primat des Wirtschaftswachstums zu opfern. Wir dürfen Flüsse und Meere nicht weiter zumüllen, Pflanzen und Böden nicht chemisch vergiften, die Luft nicht verpesten und Wälder nicht abholzen, um kurzfristige Gewinne zu erzielen. Kurzum: Wir müssen die Natur schützen, um uns selbst zu schützen!

Was wird nach der Corona-Krise vermutlich bleiben? Auf jeden Fall der Klimawandel! Aber auch eine Wirtschaft, die durch drastische Maßnahmen massiv geschädigt wurde. Insolvenzen, Arbeitslosigkeit, Kaufkraftschwund, eine hohe Staatsverschuldung und die Frage, wer das alles bezahlen soll. Es ist aber auch die Hoffnung auf eine ökologisch-soziale Transformation aufgekeimt und mit ihr die Frage, wie eine Balance wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit erfolgen kann. Der Befürchtung, dass der Ankurbelung der Wirtschaft alles andere untergeordnet wird – vor allem der Kampf gegen den Klimawandel – steht die Furcht vor Rezession und individueller Verarmung gegenüber. Doch Wirtschaftsaufschwung bedeutet nicht, dass alle davon profitieren. Es ist zu befürchten, dass Profiteure und Verlierer wie bisher ungerecht verteilt werden und sich die Kluft zwischen Arm und Reich vergrößert. Weil Armut keine Ressourcen hat, Natur zu schützen, bleiben beide, Mensch und Natur, auf der Strecke.

Somit bleiben große Herausforderungen, die eines vernünftigen Verstandes bedürfen.

Horst Peter Groß, Präsident des Universitäts.club|Wissenschaftsverein Kärnten

04. Mai 2020