Seit dem Frühjahr 2020 befinden wir uns national wie global in einer Situation, die uns in die Befremdung schickt. Wir sollen uns vermummen und vereinzeln, wobei ersteres fast zwangsläufig zu letzterem führt: Wen ich nicht mehr gleich erkennen und schon gar nicht einschätzen kann, dem nähere ich mich vorsichtig, wenn überhaupt noch. Mit leichten Lockerungen dazwischen üben wir zudem ein, dass wir nur noch arbeiten dürfen. Sonst nichts. Nur noch arbeiten. Alle gewohnten Möglichkeiten der Erholung und des Auftankens sind gekappt, wir dürfen nur noch „raus“ mit einem triftigen Grund (Arbeit), alle Orte der Ermöglichung anderer Seinsformen sind (aus-)geschlossen.
Wird das auch unsere Zukunft sein? Die meisten, die durch den ersten Lockdown mit Maximalsituation von Verboten gut durchgetaucht sind (und die verordnete Ruhe gar nicht mal so schlecht fanden), fühlen sich nun auch müde, belastet, ja überlastet. Ein Grund für die Ermüdung und Belastung ist diese unerträgliche Visionslosigkeit, die das politische und gesellschaftliche Handeln bestimmt. Das war schon vor unserem neuen unsichtbaren Feind Corona so. Damals – gemeint ist die Zeit, die vor sieben Monaten offenbar zu Ende ging (!) –gab es keinen Feind im Außen, der uns davon abhielt, Visionen für die Zukunft zu entwickeln und an ihrer Umsetzung zu arbeiten. Und dennoch begleitet uns die Visionslosigkeit gefühlt seit Jahrzehnten. Die Devise war vor allem: Mehr vom selben, Festhalten am Status quo. Aktuell ist das Denken über die Zukunft noch viel ärmer geworden: es endet bei dem Impfstoff, der Corona besiegen soll. Dahinter steht keine Vision einer gesellschaftlichen Zukunft.
„Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen!“ Das hat der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt zu Willy Brandt auf dessen Vorschläge zur Ausrichtung der SPD im deutschen Bundestagswahlkampf 1980 gesagt. Die Ärzte sind heute durchwegs mit anderem beschäftigt. Wir anderen können also unbesorgt unsere Visionen von einem guten Leben wieder hervorzukramen, oder uns daran machen, neue Visionen zu entwickeln. Von einem guten gesellschaftlichen Miteinander – ohne Vermummung und Vereinzelung, ohne regieren mit und reagieren unter Angst – sondern mit möglichst vielen lebendigen und unterschiedlichen Ideen, die in einem offenen gesellschaftlichen Diskurs die Entwicklung weiterer Visionen beflügeln. Wer dabei auf die Politik wartet, kann sich auch gleich in Wladimir oder Estragon umtaufen lassen und auf Godot warten.
Heike Egner, Ida Pfeiffer Professorin an der Universität Wien, Sozionautin und Vorstandsmitglied des Universitäts.club|Wissenschaftsverein Kärnten
18. November 2020