„Und wenn der ganze Wahnsinn vorbei ist, gönne ich mir ein paar ruhige Tage.“ Dass Humor und Ironie besonders in Krisen blühen, ist an sich nichts Neues. Aber in Corona-Zeiten kursierende Witze wie dieser offenbaren auch pure Widersprüchlichkeit: Für krisenbedingt Zwangsverlangsamte riechen „ruhige Tage“ eher nach böser Provokation. Für Zwangsbeschleunigte wiederum sind sie wohl eher eine noch ungestillte Illusion.
Dass Zeit relativ ist, ist nicht erst seit Einstein evident, sondern eine triviale Alltagserfahrung seit jeher. Selten aber war das so flächendeckend spürbar wie in diesen viralen Tagen. Ein längerer Urlaub? Quasi ein gefühlter Wimpernschlag. Hingegen einige Wochen in eingeschränkter Bewegungsfreiheit und persönlicher Kontaktarmut? Eine lähmende Zumutung. Jedenfalls für viele Zwangsentschleunigte, die in Quarantäne ausharren sollten oder Ihren Job verloren haben.
Im Gegensatz dazu etwa jene hyperbeschleunigten System-Erhalter im Gesundheits-, Pflege- oder Versorgungsbereich, die im nervösen Dauerwettlauf mit der Zeit stehen. Ganz zu schweigen von weltweit Covid-Forschenden, die so schnell wie noch nie arbeiten, um einen wirksamen Impfstoff zu entwickeln. Die einen sehen sich „u(h)rplötzlich“ mit einer erdrückenden Ladung Verantwortung und (Lösungs-)Erwartung überhäuft. Ihnen läuft die Zeit sprichwörtlich davon. Die anderen haben eine Wagenladung voller Gegenwart geschenkt bekommen – und können damit oft wenig anfangen.
Hier unfreiwillige Langeweile oder Vereinsamung, dort alternativlos kurzatmige Eile. Die einen arbeiten irre, um etwa ihren Betrieb, ihre Familie oder „das System“ am Leben zu halten. Die anderen sind zum Nichtstun verdammt, weil der Shutdown (fast) alles lahmlegt. Wiederum andere versuchen, via Home-Office das Beste aus dem Schlechten zu machen und verwandeln das Zuhause zum 24/7-Office-Home.
Umso mehr stellt sich die ernsthaft postvirale Frage: Und wenn der ganze Wahnsinn vorbei ist, was sollten wir uns sinnvollerweise tatsächlich „gönnen“ – kollektiv wie individuell? Jedenfalls keine lineare Fortschreibung des Bisherigen, sogenannten Normalen. Denn wir können nicht mehr zurück zu jener „Normalität“, die das eigentliche, „wahnsinnige“ Problem war – und weniger die Krise selbst, die sie auslöste.
Es werden Haltungen gefragt sein, die die gewohnte Komfort-Zone zur außergewöhnlichen „Komm-Vor-Zone“ mutieren lassen. Eine Haltung, die querdenkt und Gewohntes infrage stellt. Eine, die nicht bloß fragt: WARUM ist diese Krise passiert? Sondern vor allem: WOZU? Damit uns ein künftiger Wahnsinn erspart bleibt.
Mag. Dr. Franz J. Schweifer, Zeitforscher & Temposoph, Stv. Vorsitzender „Verein zur Verzögerung der Zeit“
11. Mai 2020