Die Medizin hat eine gesicherte Kindheit erzeugt, ein meistenteils unbeschwertes Leben, ein hohes Alter. Dabei haben wir die Körper vergessen. Denn die Medizin hat ausgebessert, überbrückt, kompensiert. Die Reparaturen haben uns Lebensjahrzehnte geschenkt. Dabei ist uns der Befund entglitten, dass wir allemal hinfällige körperliche Wesen sind. Eine Spezies, die mit anderen Spezies um das Überleben konkurriert und die sich in einem fragilen Anthropozän mit anderen „Lebewesen“ befindet. Es gilt für unsere Körper, was auch für die Welt im Ganzen gilt: Es sind „physiologische Systeme“, mit den Eigenschaften solcher Systeme: Sie können sich innerhalb von Grenzen selbst stabilisieren. Sie können aber auch zusammenbrechen.

Das SARS-Ding ist ein intelligentes Biest. Es schleicht sich in den Körper, viele Fälle bleiben ohne Symptome – optimal für die Verbreitung. Im Körper setzt es gleichzeitig an vielen Stellen an – erschwerend für rasche Behandlung. Es kann sein, dass das Biest nie ausgerottet wird. Immunität ist unsicher. Die Wirkung der irgendwann kommenden Impfung ist unsicher: Sie könnte nur ein paar Monate wirken. Es müssen Milliarden Dosen produziert werden. Die Hälfte der Weltbevölkerung sollte geimpft werden. Mutationen können ständig neue Situationen schaffen. Alles unbekannte Größen. Das Problem ist ja nicht, dass es pro Jahr tausend Tote in Österreich geben kann; das nehmen wir bei anderen Infektionen auch in Kauf. Das Problem ist vielmehr, dass es beachtlicher Verhaltenseinschränkungen bedarf, um die Todesrate überhaupt auf diesem Niveau zu halten. Die Einschränkungen könnten somit Jahre dauern.

In der globalen Pandemie definieren die schwächsten Länder die Situation, darunter sind allerdings auch die größten Länder. Wir sind deshalb erst in der Ausbreitungsphase. Die Zukunft wird lange nicht „normal“ sein. Die wirtschaftlichen Folgen waren bis jetzt – trotz allem – beinahe harmlos, vor allem wegen der staatlichen Durchfinanzierung in unzähligen Programmen. Aber wenn das staatliche Füllhorn ein Ende findet, endet auch die Existenz vieler Betriebe und Arbeitsplätze. Es folgt Nachfrageschwäche, aus Angst, Unlust, Bescheidenheit – oder weil man die Elektronik entdeckt. Business-Verkehr niedrig. Auslandstourismus niedrig: Es wird dauern, bis die chinesischen Gruppen wieder den Stephansplatz und die Konferenztouristen die Stadthotels bevölkern. Immerhin kann es sich ein Luxusland wie Österreich leisten, auf zehn oder zwanzig Prozent seines Lebensstandards zu verzichten.

Univ.Prof. Dr. Manfred Prisching, Universität Graz, Institut für Soziologie

28. August 2020