Covid lehrt uns die harte Entwöhnung vom gewohnten Habitus, der da lautete: Alles da, alles machbar, alles möglich, überall und jederzeit. Der Abschied von der Gewohnheit, unbequeme Spannungen, Widersprüche oder Begrenzung kaum mehr aushalten zu müssen, katapultiert uns abrupt und unsanft aus der Komfortzone. Deshalb wird eine Fähigkeit mehr denn je gefragt sein, die beinahe vergessen, jedenfalls kaum mehr relevant schien: Ambiguitätstoleranz.
Ambiguitätstoleranz (von lat. ambiguitas für „Zweideutigkeit“, „Doppelsinn“) wird als Unsicherheits- oder Ungewissheitstoleranz bezeichnet. Damit ist die Fähigkeit gemeint, Ambiguitäten, d.h. Widersprüchlichkeiten und Mehrdeutigkeiten nicht nur auszuhalten, sondern konstruktiv zu verarbeiten. Die Psychologin Else Frenkel-Brunswik definierte Ambiguitätstoleranz als eine messbare Fähigkeit, die Koexistenz von positiven und negativen Eigenschaften in ein und demselben Objekt erkennen zu können. Bloßes Schwarz-Weiß-Denken hielt sie für ein Extrem der Ambiguitätsintoleranz.
Ambiguität kann sich auch auf mehrdeutige Informationen oder Sachverhalte beziehen, die per se nicht (nur) negativ, aber auch nicht vorbehaltlos positiv zu bewerten sind. Allein der höchst widersprüchliche Covid-Diskurs zeigt, wie schwierig es mitunter ist, vermeintlich oder tatsächlich Vernünftiges von verqueren Verschwörungen zu unterscheiden.
Wir werden demnach in unserer Ambiguitätstoleranz gefordert sein, es auch auszuhalten, dass das Lösen eines Dilemmas Zeit und Dialog braucht und der Weg dorthin mit Versuch und Irrtum gepflastert sein kann. Oder, wie der Philosoph Peter Heintel sinngemäß meinte, dass Widersprüche nicht durch reine Logik ausrottbar seien, sondern dialogisches Ausverhandeln brauchen. Wir werden aushalten müssen, dass substanzielle Antworten Zeit benötigen und auch deren Relevanz und Wahrheitsgehalt fragwürdig bleiben, ein Ablaufdatum haben. Oder, um mit Karl Popper zu sprechen: „Wir wissen nicht, wir raten.“ Unser Wissen – gewissermaßen nur der gegenwärtige Stand des Irrtums!?
Wie überhaupt es Sinn machte, mehr Fragen zu stellen, als vorschnelle Pseudo-Antworten zu produzieren. Es könnte auch unsere Ambiguitätstoleranz nachhaltig unterfüttern, würden wir mehr Sinn- und vorwärtsgewandte WOZU-Fragen und nicht bloß anklagend-rückwärtsgewandete WARUM-Fragen stellen. Etwa wie: „Wozu ist das gut?“ Oder mit aktuellem Bezug: „Wozu ist die Krise passiert?“ Erhellende Erkenntnisse nicht ausgeschlossen. Etwa jene, dass das Gezeter um temporäre Einschränkungen individueller Freiheiten letztlich eine Petitesse ist.
Mag. Dr. Franz J. Schweifer, Zeitforscher & Zeitphilosoph alias Temposoph, Stv. Vorsitzender „Verein zur Verzögerung der Zeit“, Universität Klagenfurt
28. Jänner 2021