Diese Zeit des Jahres ist traditionell in unseren Kreisen eine Zeit der Geschenke. In diesem Jahr sind wir jedoch alle ärmer geworden, finanziell (na ja, fast alle) und allemal sozial. Quer durch alle unsere Beziehungen (Familie, Freunde, Arbeit) geht die Spaltung entlang von Fragen wie Freiheitsberaubung oder notwendiger Schutz, Pandemie oder „normale“ Viruserkrankung, Impfen als Teil der Selbstbestimmung oder als staatlich verordnete Pflicht, und so weiter.

Mir scheint es an der Zeit, ein Geschenk in Erinnerung zu rufen: Das Geschenk des Zweifels. Genauer: Den Zweifel daran, dass das, was ich denke, richtig ist. Und daran, dass es sich dabei um die Wahrheit handelt, die die anderen nur noch verstehen müssen. Vielleicht ist etwas ja ganz anders, als ich bisher gedacht habe? Vielleicht aber auch nur in einem wichtigen Detail anders, so dass ich andere Schlüsse daraus ziehen muss? Das klingt unbequem, aber mit Geschenken ist es ja nun einmal so, dass man sie bekommt, ob man sie mag oder nicht. Der Zweifel an den eigenen Gewissheiten erweist sich immer dort als Geschenk, wenn er mir erlaubt, den Argumenten meines Gegenübers zuzuhören, auch wenn dieses – wie ich bereits weiß – ganz anderer Meinung ist.

Bei Geschenken ist auch eine wichtige Frage, woher kommt das Geschenk? Der Zweifel hängt eng mit Bewusstsein und Bewusstheit zusammen, ein feiner und dennoch sehr bedeutsamer Unterschied. Das Bewusstsein bringen wir Menschen bereits mit – ein Geschenk des Lebens sozusagen, während Bewusstheit das Ergebnis von Denken und damit von Arbeit ist. Bewusstheit erweitert sich, je intensiver wir das Geschenk des Zweifels für uns aktiv einsetzen.

Lassen wir doch – vielleicht auch nur einmal spielerisch – das ach so schöne Gefühl von Beseeltsein mit der Wahrheit zur Seite treten, und machen so dem Geschenk des Zweifels Platz, auf dass es sich niederlassen kann. Das führt nicht in Verzweiflung und Kampf, sondern öffnet ganz im Gegenteil neue Räume in uns, die wir mit Begegnung füllen können. Das funktioniert sogar bei den vielen Spaltungen, die uns in diesem Jahr so arm gemacht haben. Der Zweifel daran, dass das, was ich denke, richtig ist, erweist sich so als ein Geschenk. An uns selbst, an unser Gegenüber, an unsere Gesellschaft. Mein Wunsch für uns alle: Viele Zweifel im Neuen Jahr!

Heike Egner, Geographin, Sozionautin und Vorstandsmitglied des Universitäts.club|Wissenschaftsverein Kärnten

21. Dezember 2020