Insofern wir Entscheidungen treffen, und das tun wir täglich, machen wir von unserer Freiheit Gebrauch. Die Erhaltung der Freiheit ist ewige kollektive Aufgabe, denn frei zu sein heißt – zugespitzt – Angst vor sich selbst zu haben.
Peter Heintel war ein leidenschaftlicher Philosoph der Praxis, auch wenn er als Lehrer und Forscher stets an der Universität verankert war. Mit seiner meines Wissens einzigartigen Professur für „Philosophie und Gruppendynamik“ hatte er es zu seiner Aufgabe gemacht, über den Zusammenhang von Theorie und Praxis Auskunft zu geben, und er hat damit immer schon die Grenzen der Universität und der akademischen Fachphilosophie überschritten. Schließlich war Philosophie für ihn kein Fachgespräch unter Philosophen, das man als Wissenschaft – im Sinne einer „Arbeitsteilung im Geiste“ – an die Universitäten auslagern kann. Vielmehr hat eine Philosophie, die sich der Selbstreflexion und Aufklärung verpflichtet, eine Philosophie, die in der Freiheit von Individuen und Systemen das wesentliche Ziel ihres Wirkens sieht, geradezu die Verpflichtung, Praxiseinmischung zu betreiben.
Die Philosophie wäre für ihn zum Scheitern verurteilt, wenn sich ihre Interventionen lediglich an die Vernunft richten oder wenn sie sich – in Expertenmanier – anmaßt, anderen zu sagen, wer und was sie sind. Sie verfehlt ihren Anspruch, wenn sie vergisst, „dass es wohl immer schon eine Ahnung der Menschen war, selbst über sich selbst nachdenken zu müssen“ und dass dies für ihr Überleben und dessen Weiterentwicklung unverzichtbar sei.
Für diese Not-wendige (individuelle und kollektive) Selbstreflexion braucht es jedoch geeignete Rahmenbedingungen, die es bewusst herzustellen gilt: Institutionalisierte Orte, entsprechende Zeiten und ganz bestimmte soziale Konstellationen. Ideen können nur Wirklichkeit werden, wenn sie vergemeinschaftet und somit zu sozialer Realität werden. In diesen Versuchen der entsprechenden Organisation von Kommunikation besteht für mich – in unzureichender Kürze zusammengefasst – der von Peter Heintel begründete Zusammenhang von Philosophie, Organisation und Gruppendynamik. Dass gerade dieses Anliegen bestehende Machtverhältnisse herausfordert, liegt in der Tradition einer kritischen Philosophie, welche ihre Wurzeln in den sokratischen Dialogen findet.
Ich hatte die Möglichkeit, Peter Heintel nicht nur als Lehrer und Doktorvater im Rahmen meines Studiums zu erleben, sondern darüber hinaus gerade an der Schnittstelle von Theorie und Praxis, von Wissenschaft und Gesellschaft, mit ihm über 30 Jahre in vielfältiger Weise in gemeinsamen Forschungs- und Beratungsprojekten, Weiterbildungsveranstaltungen und Klausuren zusammen zu arbeiten. Dabei hat er mich auch ein interessantes Stück meines Weges begleitet – in meinen Funktionen in der Kärntner Sparkasse, als Vorsitzender des Universitätsrates der Alpen-Adria-Universität (Peter Heintel war zu dieser Zeit Senatsvorsitzender) sowie als Mentor im Universitäts.club|Wissenschaftsverein Kärnten. Peter Heintel hat dabei immer ein Stück weiter und grundsätzlicher gedacht als andere: Ganzheitlicher, die Widersprüche und Konflikte dialektisch aufgreifend, systemkritisch, aber auch ergebnisoffen. Damit, und durch seine prozessorientierten Interventionen, hat er es immer wieder geschafft, Menschen und Organisationen zur Selbstreflexion zu bewegen und dabei Autoritäten und (vorherrschende) Systeme zu irritieren. Gerade weil sich dadurch der Widerspruch zu Wort meldete, konnten notwendige Konflikte „prozessiert“ und eine Weiterentwicklung vielfach erst ermöglicht werden.
Mit seiner speziellen „Philosophie der Organisation“, welche die Bedeutung der organisatorischen und gruppendynamischen Aspekte für gelingende Reflexions- und Entscheidungsprozesse bei der dialektischen Bearbeitung von „anthropologischen Grundwidersprüchen“ in besonderer Weise berücksichtigt, sowie mit seiner „Prozessethik“ und dem Konzept der „Kulturellen Nachhaltigkeit“ weist Peter Heintel auch der Wissenschaft einen neuen Weg der Verbindung von Theorie und Praxis. Mit seinen methodischen Ansätzen wie dem „Klagenfurter prozessethischen Beratungsmodell“, der „mehrdimensionalen Motivforschung“, insbesondere aber der „Interventionsforschung“ (die theoretischen Grundlagen dazu konnte ich im Rahmen seiner Forschungskolloquien und des gemeinsamen Projektes zur Gründung des „Instituts für Interventionsforschung und kulturelle Nachhaltigkeit“ mit ihm und KollegInnen der Alpen-Adria-Universität mit entwickeln), erweist sich Peter Heintel als Philosoph der Praxis, der konkrete Hilfestellung anbietet, um vom Reden ins Tun zu kommen. Aus all diesen Gründen sind auch viele seiner Dissertantinnen und Dissertanten von anderen Universitäten Österreichs, aus Deutschland, der Schweiz und darüber hinaus nach Klagenfurt gekommen.
Kommunikationsprozesse sind der Schlüssel zur Problemlösung. Weil es dabei immer auch um das Balancieren von Machtverhältnissen geht und weil es einen „herrschaftsfreien Diskurs“ nicht gibt, müssen diese kollektiven Prozesse der Auseinandersetzung, der Entscheidungsfindung und praktischen Umsetzung organisatorisch eingebettet und reflexiv begleitet werden. Damit geht Peter Heintel einen entscheidenden Schritt weiter in die Praxis, überwindet er den akademisch-theoretischen Boden universitärer Philosophie und verweist – angesichts der Herausforderungen einer globalisierten Welt – auf die Notwendigkeit einer umfassenderen, anders verstandenen politischen Bildung „als Prinzip aller Bildung“, die im Hinblick auf die kulturelle Nachhaltigkeit einer globalen Gesellschaft bereits in der schulischen Praxis geübt werden müsste (nicht jedoch als Unterrichtsfach!).
Als Konfliktforscher verweist er darauf, dass die „Eigenlogik“ von Systemen, ihre Einseitigkeiten und inneren Wertfiguren, ganzheitliche Problemlösungen verhindern. Insbesondere das Wachstumsparadigma der Wirtschaft wie auch das Fortschrittsparadigma der Technik dominieren andere gesellschaftliche Subsysteme, sodass diese mit quantitativen Beurteilungskriterien konfrontiert werden, welche ihre besonderen Qualitäten nicht erfassen können. Dies betrifft im Bildungs- und Wissenschaftsbereich insbesondere die Übertragung des naturwissenschaftlichen Denkmodells auf die Kultur-, Sozial- und Geisteswissenschaften. Dem gegenüber trat er für eine ganzheitliche, prozessorientierte Bearbeitung komplexer Herausforderungen ein, welche die Grenzen der wissenschaftlichen Disziplinen überschreiten und das besondere Wissen der Praxis einbindet. In diesem Sinne hatte er bereits 1979 mit KollegInnen das Interuniversitäre Forschungsinstitut für Fernstudien gegründet, das mehrere Standorte an anderen österreichischen Universitäten hatte und später als Interuniversitäres Institut für Forschung und Fortbildung auch die transdisziplinäre Zusammenarbeit forcierte. Für ihn geht es um das prozessethische Ausbalancieren auftretender Widersprüche, die uns als „notwendige Konflikte“ im täglichen Leben begegnen (weil sie zum Wesen des Menschen und menschlicher Gesellschaften gehören), allerdings durch ein eindeutiges „Richtig“ oder „Falsch“ im Sinne hierarchischer Logik nicht gelöst werden können. Als Dialektiker im Sinne Hegels sind für ihn Widersprüche systemimmanent und Konflikte daher Not-wendig! Denn sie sind wichtige Lernorte für Individuen, Gruppen und Organisationen, die konstruktiv genutzt und aktiv aufgegriffen, jedenfalls nicht – wie vielfach praktiziert, weil unangenehm – unter den Teppich gekehrt werden sollen.
Mit der Gründung des „Vereins zur Verzögerung der Zeit“ hat Peter Heintel einen weiteren Aspekt aufgegriffen und institutionalisiert: Er hat auf paradoxer Weise darauf hingewiesen, dass die Bearbeitung Not-wendiger Widersprüche und Konflikte, dass kollektive Reflexion und Entscheidungen auch entsprechende Eigen-Zeit benötigen. In diesem Sinne widersetzte er sich der wirtschaftlich-technologischen Zeitbeschleunigung, indem er zum „Innehalten“ (so der Titel einer seiner maßgeblichen Publikationen) aufrief. Denn allzu heftige Zukunftsorientierung, die sich heute in Innovationshysterie äußert, ist auch eine Gegenwartsflucht. Für Peter Heintel hingegen heißt Zukunftsgestaltung zunächst innehalten in der Gegenwart, zurück zu blicken, nachzudenken, und die entscheidende Frage nach dem „guten Leben“ zu stellen: „Wollen wir das alles so, wie wir es uns eingerichtet haben und wie es sich weiter zu entwickeln anschickt? Und: Ist das auch gut für uns?“
Damit weist er auf den Freiheitsgebrauch des Menschen hin, der ihn einerseits wesensbedingt ausmacht und von der ihn umgebenden Natur unterscheidet, andererseits aber auch auf seine Verantwortung im „Zeitalter des Menschen“ (Anthropozän) hinweist. Aufgrund der inzwischen geologischen Veränderungsmacht stellt sich nämlich die Frage, ob dieser ungehemmte Freiheitsgebrauch des Menschen unter wachstumsideologisch getriebenem technischem Fortschrittsdenken inzwischen nicht in Willkür umschlägt, die sich letztendlich gegen ihn selbst richtet. „Was die Welt im Innersten zusammenhält“ und wie wir (Menschen) mit unserer eigenen Macht, die sich zunehmend unser selbst bemächtigt, anders umgehen sollen bzw. können, hat er u.a. in der aktuellen Publikation der Reihe „Kunst|Wissenschaft|Gesellschaft – Quer denken“ beschrieben, die der Universitäts.club herausgibt. Angesichts der globalen Herausforderungen gewinnt Zukunftsgestaltung nämlich eine neue Dimension. Wenn wir uns vielleicht jedoch selbst als Ursache unserer Probleme erkennen, können wir uns gerade deswegen – im Sinne der kulturellen Nachhaltigkeit der „Gattung Mensch“ – auch anders entscheiden! Das ist die gute Nachricht, und daran gilt es im Sinne Peter Heintels zu arbeiten.
Dr. Horst Peter Groß